Haben wir das Ziel aus den Augen verloren?

Das Corona Virus bestimmt seit nun über einen Jahr das gesellschaftliche Leben auf der Welt. Die Strategie zur Bewältigung der Pandemie war, bis auf wenige Ausnahmen, immer gleich: Kontaktreduzierung, um die Verbreitung des Virus so weit zu verlangsamen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird und weiterhin einsatzfähig bleibt. Ein Lockdown ist dabei das letzte Mittel. Quasi eine Notbremsung des gesellschaftlichen Lebens.
Für diese Strategie sind Virologen und Epidemiologen zurecht die Experten. Wer sonst kennt sich bei mit den Gefahren, Übertragungswegen und der Dynamik der Verbreitung eines Virus besser aus?

Aktuell befinden wir uns seit einem viertel Jahr in einem Lockdown. Kontakte sind auf das Minimum reduziert. Trotzdem steigen die Infektionszahlen und die Angst vor einer dritten Infektionswelle, durch eine mutierte gefährlichere Variante des Virus, geht um. Das aktuelle Vorgehen verfehlt sein Ziel und so schwindet die Perspektive auf baldige Lockerungen. Stattdessen richtet sich alle Hoffnung auf eine baldige Immunisierung der Gesellschaft durch eine flächendeckende Impfung als Licht am Ende des dunklen Lockdown-Tunnels. Wieder eine Lösung im Geiste und der Logik eines Epidemiologen.

Vielleicht ist es Zeit für eine Kurskorrektur

Doch mit jeder Woche im Lockdown, in der wir ganze gesellschaftliche Teile wie Kultur, Bildung, Sport, Gastronomie oder Einzelhandel sprichwörtlich ausbremsen, zeigen sich mehr und mehr Nebenwirkungen. Die Nerven liegen blank. Bei Unternehmenden, die vor der Pleite stehen, deren Angestellte, die um ihren Job bangen. Bei Kindern und Jugendlichen, die ihre Freunde vermissen und soziale Interaktion dringend brauchen. Eltern, die untern der Doppelbelastung Arbeit und Kinderbetreuung ächzen… Eigentlich leiden gerade alle für sich auf ihre Art.

Und je länger dieser Lockdown andauert, desto lauter wird die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der aktuellen Maßnahmen. Und ich finde auch völlig zu Recht.

Kontaktbeschränkungen sind weiter effektiv (wenn sie denn eingehalten werden), aber zunehmend schädlich. Ich hatte schon früh die Sorge, dass die Folgen, die durch die Maßnahmen entstehen eine größere Gefahr für die Gesellschaft sind als die, die durch das Virus selber ausgehen. Die Frage, die für mich daher schon lange im Raum steht: Schaden die Maßnahmen der Gesellschaft mehr als sie nutzen? Ich kann diese Frage natürlich nicht beantworten. Die Auswirkungen sind unbekannt und daher weitgehend Vermutungen. Trotzdem habe ich ein Gefühl und aus diesem ergibt sich der Wunsch, das wir die aktuelle Strategie überdenken.

Aufgabe der Politik ist es seine Bürger und die Gesellschaft vor Schaden zu schützen

Es ist Zeit wieder einen Schritt zurück zu treten und das Gesamtbild zu betrachten. Denn die eigentliche Aufgabe der Politik ist es seine Bürger und die Gesellschaft vor Schaden zu schützen. Und während wir uns zu Beginn für dieses Ziel sehr darauf fokussiert haben das Gesundheitssystem durch die Verlangsamung der Infektionsgeschwindigkeit leistungsfähig zu halten, haben wir vielleicht das große Ganze aus den Augen verloren. Es geht nicht „nur“ um den Schutz unseres Gesundheitssystems. Das Gesundheitssystem ist ein (wichtiger) Baustein. Aber daneben gibt es viele weitere Faktoren, die für die „Gesundheit“ einer Gesellschaft wichtig sind, nun deutlich werden und nach meiner Meinung zu wenig Aufmerksamkeit erhalten.

Eins ist für mich sicher: Die aktuelle Pandemie gibt einen Vorgeschmack auf das was uns in Zukunft vielleicht öfter und deutlich härter (im Sinne von aggressiveren Viren) treffen könnte. Wir konnten bis heute viel Lernen und ich würde mir wünschen, dass wir jetzt damit beginnen diese Erkenntnisse in unsere zukünftige Strategie einzubauen. Denn diese ist hoffentlich keine Vorbild für die Bewältigung künftiger Pandemien.

Was ich mir wünsche

Ich glaube, dass es im Umgang mit der Pandemie viele verschiedene Ansätze geben kann. Aktuell ist unser Lösungsraum stark geprägt und eingeschränkt durch die Sicht der Epidemiologen. In in der aktuellen Situation halte ich das für zu unterkomplex und gesellschaftlich sogar brandgefährlich!

Ich wünsche mir daher eine Diskussion mit Experten aus vielen verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens als „nur“ aus Virologen.

Ich wünsche mir eine offene Diskussion über unsere Werte und was wir in unserer Gesellschaft um welchen Preis schützen wollen.

Und zu guter Letzt wünsche ich mir, dass wir ganz im ganz Sinne von Conway darüber nachdenken, ob die Form in der wir uns politisch und gesellschaftlich organisieren überhaupt noch geeignet ist Lösungen zu generieren, die den komplexen Problemen in unserer Welt gerecht werden können.

In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund. Und bleiben Sie vor Allem munter.